Die Meinung am Freitag, 02.10.2015, von Hermann Kuhn

01.10.15 –

Ich meine, dass eine spekulative „Lager“-Entscheidung das letzte ist, was die Grünen im Augenblick brauchen.

„Jenseits der Lager, diesseits der Realität“war der Titel einer Standortbestimmung grüner Politik aus dem Jahr 2007. Darin wurde – bestimmt nicht zum ersten Mal und auch nicht zum letzten Mal – die grüne Wahlkampfstrategie der Selbständigkeit begründet. Eine Strategie der Eigenständigkeit und  Unverwechselbarkeit grüner Inhalte und Ziele, verbunden mit pragmatischer Abwägung von Machtkonstellationen und Entscheidung für Gestaltungs-/Machtoptionen, wenn denn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist – manchmal vor der Wahl mit der Programmatik wie 2006, 2010 und 2014 in Bremen, manchmal auch erst nach der Wahl.

Eine Erfahrung haben die Grünen dann trotz dieses eigentlich allgemein akzeptierten Standpunktes der Eigenständigkeit machen müssen: Wenn wir uns zur Unzeit von der Presse, vom politischen Gegner oder aus eigener Dummheit in eine Debatte über Koalitionsaussagen und „Lager“-Entscheidung haben treiben lassen, dann gab es nur einen Verlierer: Die Grünen insgesamt. Weil wir uns in eine spekulative, emotionale Debatte um „Grundsätzliches“ verirren, die die Partei auseinanderbringt; statt programmatische Ziele zu entwickeln und politische Schritte zu ihrer Umsetzung auszuarbeiten, die die Mitglieder zusammenführen und sie nicht in „Lager“ teilt.

Deshalb gibt es für mich wenig, was wir derzeit weniger brauchen als den Vorschlag von Matthias Güldner von vergangener Woche, sich jetzt an einem angeblichen Scheideweg für die Bundestagswahl 2017 zwischen „Schwarz-grün“ und „Rot-grün“ – oder doch „Rot-rot-grün“, was ja ein sehr, sehr großer Unterschied wäre – zu entscheiden. Man sieht ja auch schon an seinen Argumenten, wie spekulativ diese Debatte würde; sie beginnt dann mit den angeblichen „Beweisen“, wie es Grünen oder Liberalen in bestimmten Koalitionen zwangsläufig ergeht – in Hessen auch? Es ist ja andererseits auch nicht so, dass Opposition oder Koalition mit der SPD automatisch Stimmenzuwachs garantieren würde, oder? Usw. usw.

Wie schädlich es ist, wenn man jetzt die politische Realität in dieses Schema des „Scheideweges“ pressen will, demonstriert Matthias denn auch gleich mit seiner Kritik an den Grünen, die das Richtige an Merkels „Willkommen“ anerkennen und das auch sagen. Was ist falsch an dieser Anerkennung? Dieses Richtige muss man doch verteidigen! Und man kann ja der Meinung sein, dass die gemeinsame Erklärung der Spitzen der grünen Landesregierungen und von Bundespartei und Fraktion zum Flüchtlingsgipfel falsch sei (ich finde sie richtig). Aber wir sollten in jedem Fall anerkennen, dass die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge eine Aufgabe ist, die wir auch auf der politischen Ebene nur mit vielen gemeinsam lösen können. Und nicht von einem „Lager“ aus gegen ein anderes.