Die Meinung am Freitag, 12.02.2016, von Olaf Dilling

Gretchenfrage Grünes Staatsverständnis Ich bin der Meinung, dass die Grünen ihre Haltung zum Staat und allgemein zu hoheitlichen Institutionen wie der EU überdenken müssen.

11.02.16 –

Gretchenfrage Grünes Staatsverständnis

Ich bin der Meinung, dass die Grünen ihre Haltung zum Staat und allgemein zu hoheitlichen Institutionen wie der EU überdenken müssen.

In die politische Öffentlichkeit ist seit einiger Zeit, spätestens jedoch Merkels Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen im letzten halben Jahr viel Aufregung  geraten. Fast wäre zu befürchten, als rüsteten sich in Deutschland rechte und linke politische Kräfte zu einem finalen Kampf. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Fronten keineswegs eindeutig sind. Vielmehr ähneln sich zum Teil die Parolen von bestimmten Linken, Rechtspopulisten und Konservativen, so dass Marie-Luise Beck mehrfach von einer Art „Querfront“ gegen das Establishment gesprochen hat. Zugleich sehen PEGIDA und AfD eine vermeintliche „Verschwörung“ der tatsächlich ja pluralistisch organisierten etablierten Politik und Medien. Die öffentlich geführten Debatten, die sich zunehmend auf soziale Medien im Internet verlagern, haben eine Tendenz zur Panikmache, polarisierender Eskalation und gegenseitiger Verdächtigung. Mehr als zuvor entziehen sich dabei die politischen Standpunkte dem herkömmlichen politischen Kategorien von rechts/links, bzw. konservativ und progressiv. Die neue Unübersichtlichkeit in der Politik ordnet sich inzwischen kaum noch an dieser herkömmlichen Unterscheidung, sondern vielmehr an einem anderen Gesichtspunkt, nämlich welche Rolle dem politischen Gemeinwesen und seinen Befugnissen noch beigemessen wird.

Die politische Gretchenfrage ist mit anderen Worten, sag, wie hast du's mit dem Staat? Was Pegida und die AfD, aber auch Teile der Partei der Linken angeht, feiern völkisch oder national geprägte Verständnisse eines starken Staats ein öffentliches „Come-Back“. Auf der anderen Seite gibt es Teile des linken Spektrums, die ihre Skepsis gegenüber hoheitlichen Institutionen und dem Nationalstaat immer weiter radikalisiert haben. Auch hier kommt es zu seltsamen Allianzen: So verbünden sich wirtschaftsliberalen Befürworter eines weitgehend unregulierten Freihandels mit antideutsch geprägten (Ex-)Linken, die sich für eine Abschaffung aller Grenzen einsetzen und Kritik am internationalen Finanz- und Bankenwesen als „antisemitisch“ zurückweisen. Oft verweisen Anhänger dieser komplementären, staatsfeindlichen „Querfront“ auf vermeintliche Sachzwänge: Sowohl nationale als auch europäische Grenzen ließen sich prinzipiell nicht kontrollieren; die Wirtschaft würde kollabieren, wenn Großbanken nicht gerettet würden; Steuerlücken ließen sich nicht schließen, ohne dass wichtige Arbeitgeber abwandern würden usw, usf. Dies entspricht der Diagnose des britischen Politologen Colin Crouch, der unter dem Stichwort der „Postdemokratie“ von der – oft nur vermeintlichen – Einschränkung politischer Handlungsspielräume spricht, die zu Politikverdrossenheit führt.

Ich bin der Meinung, dass eine besonnene, pragmatische Politik sich dieser Eskalationslogik und der damit einhergehenden Verengung der Debatte auf zwei extreme Modelle entziehen muss. Je schriller der öffentliche Diskurs geführt wird, desto wichtiger ist es, sich nicht von Radikalen gleich welcher Couleur die Agenda bestimmen zu lassen.

Die Partei der Grünen hat traditionell hohe Erwartungen an Sozialstaatlichkeit und hohe, staatlich garantierte Umweltstandards. Aber inwiefern sind wir bereit, in der Konsequenz dem Staat Ressourcen zuzugestehen, diese Aufgaben zu bewältigen, auch wenn dafür individuelle Rechte beschnitten werden? Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen, Steuererhebung und Grenzkontrollen:

Die Anhebung von Steuersätzen ist vielleicht die naheliegendste Frage, wenn es um die Ausstattung des Staates mit Mitteln zur Bewältigung seiner Aufgaben geht. Allerdings scheitert es allzu oft an einer effektiven und gerechten Erhebung von Steuern. Außerdem gibt es zahlreiche Schlupflöcher gerade für einkommensstarke Bürger und Unternehmen, so dass die Progression konterkariert wird. Wir Grünen sind hier in einem Dilemma: Einerseits zählt Datenschutz zu einem unserer wichtigsten Forderungen, andererseits macht Geheimhaltung eine effektive Steuerverwaltung unmöglich.  In diesem Zusammenhang stellt sich aktuell die Frage, ob die umstrittene Bargeld-Grenze in Höhe von 5000 Euro nicht auch einen Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen leisten kann. Meiner Meinung nach wird diese Frage bei den Grünen häufig zu einseitig diskutiert: Datenschutz ist wichtig, aber darf nicht überspannt werden, da sonst eine effektive Erhebung von Steuern unmöglich gemacht wird.

Nicht nur die Steuererhebung, auch der Schutz der Grenzen eines Hoheitsgebietes zählt zu den grundlegenden Staatsfunktionen. Wir befinden uns zur Zeit in einer besonderen Situation, die es erforderlich macht, Grenzen für Asylsuchende zu öffnen. Auch europarechtlich ist Deutschland zu offenen Grenzen verpflichtet. Zum Teil mündet dies in pauschalen Äußerungen darüber, dass sich die Staatsgrenzen und die Außengrenzen der EU überholt hätten oder dass sie jedenfalls nicht effektiv zu kontrollieren seien. Hier sollte aufrichtig zwischen politischen oder rechtlichen Vorgaben einerseits und tatsächlichen Einschränkungen andererseits unterschieden werden. Eine Kontrolle von Staatsgrenzen war und ist weiterhin möglich – soweit dies politisch gewollt ist. Die Logik von Schengen ist, dass der Verzicht von EU-Binnengrenzen mit einer Verstärkung gemeinsamer Kontrollen an den EU-Außengrenzen einhergeht. Insofern ist Schengen nicht mit einer prinzipiellen Abschaffung aller Grenzen gleichzusetzen.

Die völlige Abschaffung von Grenzen beraubt politische Gemeinwesen (sei es auf europäischer oder mitgliedstaatlicher Ebene) letztlich ihrer Möglichkeit, in ihrem Zuständigkeitsbereich gerechte und effektive Regeln durchzusetzen. Allerdings dürfen sich Grenzen, anders als dies nun in Ungarn der Fall ist, Menschen jeglicher Herkunft nicht absolut entgegenstellen. Grenzen sollen den Grenzübertritt an individuell erfüllbare oder zumindest nicht absolut nach Rasse, Geschlecht, Einkommen und so weiter diskriminierende Bedingungen knüpfen. Zugleich stellen Grenzen aber auch vor die Entscheidung, sich den demokratisch gesetzten Regeln eines Gemeinwesens unterzuordnen. Gerade dadurch ermöglichen sie es Schutzsuchenden, Gewalt, Elend und Chaos hinter sich zu lassen.

Insgesamt würde ich mir als Fazit wünschen, dass wir den Gemeinsinn John F. Kennedys beherzigen und für die berechtigten hohen Erwartungen, die wir an das Gemeinwesen haben, bereit sind, im Gegenzug immer auch etwas zur Verfügung zu stellen: „Don’t ask, what your country can do for you, ask what you can do for your country.“

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Europa | Frieden/Internationales