Die Meinung am Freitag, 16.10.2015, von Marieluise Beck

Ich meine, dass es legitim ist, eine Abstimmung gewinnen zu wollen. Nicht legitim ist es allerdings, jegliche Debattenkultur durch bösartige Unterstellungen zu zerstören. Die Sonder-LMV am vergangenen Dienstag bot dafür reichlich Beispiele. Ich setze mich mit ihnen auseinander in der Hoffnung, dass die Partei wieder zu einer Kultur des Rechtes auf differierende  Meinungen zurückfindet.

15.10.15 –

Von politischen Fouls, Denkverboten und bösen Unterstellungen oder auch: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit

 

Ich meine, dass es legitim ist, eine Abstimmung gewinnen zu wollen. Nicht legitim ist es allerdings, jegliche Debattenkultur durch bösartige Unterstellungen zu zerstören. Die Sonder-LMV am vergangenen Dienstag bot dafür reichlich Beispiele. Ich setze mich mit ihnen auseinander in der Hoffnung, dass die Partei wieder zu einer Kultur des Rechtes auf differierende  Meinungen zurückfindet.

 

Beispiel 1: Der Status des sicheren Herkunftslands liefere insbesondere Minderheiten der Willkür der Entscheider und damit vollkommener Schutzlosigkeit aus.

Dieses Argument wäre in der Tat überzeugend, wenn wir eine Anerkennungsquote von etwa 20 oder 25 % (wie z.B. bei Flüchtlingen aus der Türkei) hätten. Die Anerkennungsquote bei Flüchtlingen aus den Westbalkanländern liegt je nach Staat bei rund 1%. Offenbar hat das Asylrecht auch ohne das Instrument der sicheren Herkunftsländer bisher Roma, Sinti, Ashkali und Ägyptern kaum Schutz gewährt. Das kann man mit Fug und Recht falsch finden. Nur hat bis dato niemand gefordert, das alte Recht in diesem Punkt zu ändern. Insofern mag man aus Prinzip gegen die Definition des sicheren Herkunftslandes sein (was ich durchaus teile), die Anerkennungsrealität für die Minderheitenangehörigen ändert sich mit oder ohne diese Deklaration jedoch kaum.

Fazit: Es wurde ein maximaler Streit entfacht an einem Punkt, der die Flucht- und Anerkennungsrealität der Menschen des Westbalkan gegenüber dem jetzigen Zustand kaum verändert.

 

Beispiel 2: Überlegungen, dass eingesetzte Hilfsmittel vor Ort vergleichsweise mehr Menschen erreichen als bei uns in Deutschland, wurden als schäbiges Aufrechnen denunziert. So lange es in der Welt Armut, Hunger, Wassermangel, versteppte Erden etc. gibt, hätten die Menschen das Recht, zu uns zu wandern.

Wahr ist: sechs Mrd. Euro eingesetzte Mittel für Flüchtlinge in Deutschland sind alternativlos, kommen zu spät und werden letztlich nicht ausreichen.

Wahr ist aber auch: Mittel, die hier in Deutschland eingesetzt werden, stehen woanders nicht mehr zur Verfügung. Dieser Realität stellt sich der nicht, der behauptet, alles wäre in jedem Umfang finanzierbar. Die schändliche Tatsache, dass das World Food Programme die monatliche Unterstützung der Flüchtlinge von 34 auf 10 Dollar kürzen musste, zeigt, wovon ich rede.

Jeder der in Deutschland zu versorgenden Flüchtlinge braucht pro Monat etwa 1.000 Euro. Für eine fünfköpfige Familie aus dem Westbalkan wären das 5.000 Euro im Monat und gut 60.000 Euro im Jahr. Wenn wir Hundert solcher Familien aufnähmen, wäre das 6.000.000 Euro. Hundert Familien sind nicht viel. Also nehmen wir bitte 10.000 Familien auf. Das wäre angesichts der etwa zehn Millionen Roma, die auf dem Balkan leben, durchaus angemessen. 1.000 mal 6.000.000 Euro reichten vermutlich, um flächendeckend vor Ort Impfprogramme, Wasserprogramme, Hausaufgabenbetreuung, Mütterberatung, Existenzgründungen usw. auf die Beine zu stellen.

Sind das unmoralische Überlegungen? Rechtfertigt das den giftigen Vorwurf, hier würde auf schändliche Weise vorgeschlagen, "Würde sei woanders billiger zu haben"?

Dieser hohen Moral halte ich entgegen: Ist allen klar, dass eine Aufnahme in Deutschland über Kontingente gegenüber denen, die nicht einreisen dürfen, tatsächlich ein Zweiklassensystem von Flüchtlingen schafft? Also genau das, was niemals zu akzeptieren auf dieser Versammlung beschworen wurde?

 

Beispiel 3: Der Gedenktag der Reichspogromnacht und die Bahngleise, an denen mancher wieder zu stehen drohe ...

Dieses Bild wurde in Verbindung mit der Diskussion über Ausweisungen, Abschiebungen, Herkunftsländer und Transitzonen verwandt. Es läuft darauf hinaus, Abschiebungen mit der Deportation ins Vernichtungslager gleichzusetzen. Das ist nicht statthaft und politisch grotesk.

Eine Debatte, die nur die Wahl zwischen Extrempositionen lässt – entweder offene Grenzen oder herzlose Abschottungspolitik, blendet die reale Welt aus und rüstet uns nicht für die riesigen Herausforderungen, vor denen nicht nur eine grüne Mitgliederversammlung, sondern die ganze Gesellschaft steht.

Es geht darum, das Wünschenswerte und das Machbare miteinander zu verbinden. Unsere Flüchtlingssenatorin, unsere Erzieher, unsere Lehrerinnen, Nachbarschaften und Quartiere erleben das jeden Tag. Wenn sie nicht mehr mitmachen, wird auch das Beschwören des Wünschenswerten nicht mehr helfen.

 

 

- siehe auch: Gegen den linken Größenwahn von Barbara Dribbusch in der taz vom 9.10.2015 (www.taz.de/!5240409/), die sich mit Grenzen des Sozialstaats in der Flüchtlingsfrage auseinandersetzt.