Die Meinung am Freitag, 19.06.2015, von Anja Stahmann

Ich meine, dass wir Grüne selten durch so raues Fahrwasser gefahren sind. Jedenfalls seitdem ich mitmische. Nach meiner Erinnerung, abgesehen von 1998/99. Parallel zu den Koalitionsverhandlungen steht das Sozialressort im Mittelpunkt der Berichterstattung. Und es wird mächtig gescholten und geschimpft.

19.06.15 –

Ich meine, dass wir Grüne selten durch so raues Fahrwasser gefahren sind. Jedenfalls seitdem ich mitmische. Nach meiner Erinnerung, abgesehen von 1998/99.

Parallel zu den Koalitionsverhandlungen steht das Sozialressort im Mittelpunkt der Berichterstattung. Und es wird mächtig gescholten und geschimpft.

Das passiert auch um Einfluss auf Verhandlungen zu nehmen, Themen zu beeinflussen, Personen gezielt madig zu machen, Zweifel zu schüren und mitunter abzulenken. Schwere Zeiten für mich. Möchte ich hier mal laut sagen. Muss ich durch.

Mich beschäftigt die Frage: Wie kann es uns gelingen, den vielen Menschen, die zurzeit bei uns Zuflucht suchen, ein halbwegs angemessenes Zuhause zu bieten?

Für die meisten von ihnen werden wir dauerhaft eine neue Heimat sein. Es ist eine Erkenntnis der 90er Jahre, dass es falsch ist, auf Desintegration und baldige Wiederausreise zu setzen.

Ganz breite Teile der Gesellschaft teilen inzwischen die Grundhaltung, die uns Grüne in unseren Gründungsjahren ganz wesentlich mit geprägt haben und die bis heute eine der ganz wichtigen Antriebsfedern unserer Sozialpolitik sind: Wir stehen für eine humanitäre Flüchtlingspolitik, die zur Kenntnis nimmt, was es für einen Menschen bedeutet, für immer seine Heimat zu verlassen und in einer fremden Kultur neue Wurzeln zu schlagen.

Und gleichzeitig müssen wir als aufnehmende Gesellschaft uns klar sein: ein friedliches Zusammenleben mit Gewinn für beide Seiten kann es nur geben, wenn  die Menschen hier Freunde, Arbeit und einen Platz im Kultur- oder Sportverein oder wo auch immer finden.

Vor Ort, in den Stadteilen passiert viel, da ist die Hilfsbereitschaft mit Händen zu greifen. Das organisiert unsere Gesellschaft heute besser als in den 90er Jahren. Die Deutschen sind weltoffener geworden – oder sagen wir: viele sind es. Die Angst vor dem Fremden existiert noch, aber sie ist nicht mehr handlungsleitend für die Masse der Gesellschaft. Und die CDU, die sich in den 90er Jahren sehr zu den Scharfmachern in der „Das Boot ist voll" Stimmung gemacht hat, vertritt inzwischen deutlich moderatere Positionen.

Die Aufnahme der Flüchtlinge ist eine Herkulesaufgabe. Als Grüne Sozialsenatorin bin ich genau an der Stelle an die ich  gehöre: Ich verantworte die Aufnahme der Flüchtlinge in unseren Einrichtungen. Und ich tue das mit Herz und Engagement. Und mit einer Verwaltung, die mit hohen Ansprüchen an ihre Arbeit geht und ihre hohen Standards bei der Unterbringung nur sehr schweren Herzens Stück für Stück absenkt. Und offen gesagt: Mit Rückhalt durch die Senatorin, durch mich. Auch wenn mir manche Entscheidung nicht leicht fällt..

Wir befinden uns in einer Situation, die historisch einmalig ist. Und das wird nur deshalb nicht (oder nur am Rande) wahrgenommen, weil wir heute nicht mehr diesen Konflikt um die Aufnahme von Flüchtlingen haben wir vor 25 Jahren. Die Zugangszahlen bewegen sich auf einen historischen Höchststand zu. 1992 sind 438.000 Menschen nach Deutschland gekommen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prognostiziert für dieses Jahr 450.000. Wir wissen es nicht genau,  aber wenn man die Entwicklung der vergangenen Jahre fortschreibt, kann selbst das sich noch als zu konservativ erweisen. Bis 600.000 Menschen – das scheint mir durchaus vorstellbar.

Für Bremen hieße das: 6.000 Flüchtlinge im Jahr 2015. Eigentlich ein Pappenstiel, sollte man meinen, angesichts einer Bevölkerung von 650.000. Jahr für Jahr eine Verdopplung, inzwischen sogar eine Verdreifachung bei den Familien und eine Vervierfachung bei den Jugendlichen ohne Familie.

Wenn wir den Blick in die politischen, militärischen und wirtschaftlich Krisenregionen werfen, darf uns das nicht wundern. Jahrzehnte, jahrhundertelang hat unsere Gesellschaft auf Kosten den rohstoffreichen Regionen dieser Erde ihren Wohlstand gesogen, Arbeitskräfte ausgebeutet ebenso wie Bodenschätze. Im Zeitalter der globalen Kommunikation wird nun auch den Menschen in den betroffenen Ländern bewusst, was das eigentlich heißt. Und sie folgen ihrem Reichtum nach Europa zu uns. Kann uns das überraschen?

In den vergangenen Tagen hat sich dabei auch die Berichterstattung in den Medien verdichtet. Die Aufgabe der Medien ist natürlich nicht, die Sozialsenatorin für ihre Arbeit zu loben. Aber die Dichte der Meldungen und die Massivität der Kritik, die im Moment vorgetragen wird, wird manche von euch vielleicht überraschen. Und die Frage stellt sich: Was ist dran?

Ich will nicht behaupten, dass unter diese extrem schwierigen Bedingungen alles optimal läuft. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir in dem ganzen Thema nur einer von mehreren Playern sind. Inneres, Bau, Finanzen, Bildung, Gesundheit, Feuerwehr sind wesentlich beteiligt, und die Senatskanzlei hat den Anspruch, die Prozesse mit zu gestalten.

Fragen, die wir in unserem eigenen Ressort klären müssten, werden so Fragen, die den gesamte Senat beschäftigen: Wir wollen lieber Hallen als Zelte, in Koordinierungsrunden wird gefordert: erst Zeltstandorte prüfen, sonst werden Hallen nicht zur Verfügung gestellt oder nur geprüft. Wenn es aber um die Frage der politischen Verantwortung geht, guckt die gesamte Öffentlichkeit erwartungsvoll auf das Sozialressort. Zu Recht. Aber man muss eben wissen, dass wir uns in einem superengen Beziehungsgeflecht mit allen anderen Ressorts befinden. Je besser von dort die Unterstützung, desto besser können wir unsere Aufgaben erfüllen. Und  umgekehrt gilt das natürlich auch.

Diese Arbeitsstruktur über alle Ressorts führt auch dazu, dass fast jedes Detail unserer Planungen, auch wenn es nur erste Überlegungen sind, in allen Ressorts vorliegt. Manchmal fragen die Medien nur Stunden nach ressortübergreifenden Gesprächsrunden mit sehr detaillierten Informationen bei uns nach und bitten um Stellungnahmen. Mitten in einem laufenden Prozess, in dem viele Fragen auch für uns noch ungeklärt sind, wo eine einzige zusätzliche Information die gesamte Lage innerhalb von Stunden verändern kann. Ich bin für offenes und transparentes Regierungshandeln, und ich könnte mit diesen Indiskretionen auch viel besser leben, wenn ich überwiegend den Eindruck hätte, dass sie dazu gedacht sind, uns angesichts der ohnehin enormen Herausforderungen zu unterstützen. Das scheint mir aber leider nicht immer der Fall, die öffentliche Wirkung jedenfalls sieht derzeit jedenfalls wenig nach Unterstützung aus.

Ich bitte euch in dieser Situation: Lasst euch nicht madig machen, vertraut bitte darauf, dass wir unter den gegebenen Umständen alle Hebel in Bewegung setzen, dass wir niemanden ohne wirkliche Not in einem Zelt unterbringen oder in einem Hotel mit nur minimaler pädagogischer Bereuung. Und dass wir intensiv daran arbeiten, neue Flüchtlinge gut aufzunehmen, und diejenigen, die schon angekommen sind, besser aufzunehmen.

Sehr achtsam müssen wir umgehen mit dem Thema „freiheitsentziehende Maßnahmen“. Der entsprechende Beschluss im Senat ist ohne fachliche Beratung gefallen. Dahinter stand zum Jahresanfang ein öffentlicher Druck, nachdem eine Handvoll Jugendlicher bei der Polizei immer wieder auffällig geworden war, für die die Gerichte aber keine Haftbefehle ausstellen wollten, weil die ihnen  vorgeworfenen Taten keine Inhaftierung gerechtfertigt haben.

Soll dann die Jugendhilfe sie einsperren? Der Beschluss im Senat hatte von Anfang an zwei Pole. Der Bürgermeister und die Senatoren für Justiz und Inneres haben sehr gedrängt, dass wir eine „geschlossene Unterbringung“ möglich machen. Mein Staatsrat Horst Frehe und ich haben uns richtig reingehängt, die sozial- und jugendpolitische Fachlichkeit in die Diskussion zu bringen: Freiheitsentziehende Maßnahmen können im Einzelfall sinnvoll und unterstützend sein, das zeigen auch unabhängig Studien. Ein universelles Heilmittel gegen eine ganze Gruppe von Jugendlichen sind sie aber auf keinen Fall. Nur mit einem sehr guten Konzept und hervorragenden pädagogischen Bedingungen kann so etwas gelingen, unter strengster Aufsicht der Jugendbehörden. Und die Maßnahme ist bei weitem nicht für jeden „schwierigen“ Jugendlichen eine gute Lösung. Zumal angesichts der Jugendlichen, die der Bürgermeister, der Innen- und der Justizsenator im Blick haben, Psychiatrie und Suchthilfe erforderlich sind. Das alles zu einem Konzept zusammenzuflechten ist eine immense fachliche Herausforderung, die Zeit in Anspruch nehmen wird. Und sie ist mit sehr hohen Kosten verbunden. Auch da darf man sich nichts vormachen.

Wenn Bremen sich der schwierigen Aufgabe stellt, werden wir ohne eine breite, hochqualifizierte fachliche Debatte nicht auskommen. Die Entscheidung ist damit aus meiner Sicht der Anfang der gesellschaftlichen Debatte, nicht das Ende. Sicher ist nur: Der Fuchsberg ist für ein solches Konzept nicht geeignet. So bewerten das die Jugendhilfe aus Hamburg und Bremen gleichermaßen.