Die Meinung am Freitag, 20.11.2015, von Henrike Müller

Ich meine, wir müssen jetzt Vernunft und eine gewisse Kaltherzigkeit walten lassen. Die erneuten Anschläge in Paris haben geschockt und erschüttert, das Ausmaß und die Perfidität des Terrors aber auch die geographische Nähe verbreiten Angst und Schrecken. All das sind verständliche emotionale Reaktionen. Und doch dürfen Trauer, Wut und Zorn nicht handlungsleitend sein, wir müssen mit kaltem Herzen und umso wacherem Verstand reagieren.

19.11.15 –

Ich meine, wir müssen jetzt Vernunft und eine gewisse Kaltherzigkeit walten lassen.

Die erneuten Anschläge in Paris haben geschockt und erschüttert, das Ausmaß und die Perfidität des Terrors aber auch die geographische Nähe verbreiten Angst und Schrecken. All das sind verständliche emotionale Reaktionen. Und doch dürfen Trauer, Wut und Zorn nicht handlungsleitend sein, wir müssen mit kaltem Herzen und umso wacherem Verstand reagieren. Die erneute Aufgeregtheit und Hilflosigkeit der Anschlagsdebatten, die Instrumentalisierung der Anschläge für eine noch repressivere Flüchtlingspolitik, die erneute Forderung an alle Muslime sich zu distanzieren, die Forderungen nach mehr Sicherheit und entsprechender Ausrüstung der Behörden und die unkalkulierbare Kriegsrhetorik wie von Sarkozy – all dies verbreitet ebenso Angst und Sorge und zeugt davon, dass wir in Europa der Lage nicht gewachsen sind.

Europa hat seit nunmehr fünf Jahren keine Antwort auf Syrien, wir lassen sich den IS ungehindert ausbreiten und erstarken. Und Präsident Hollande reagiert mit der Berufung auf den „Europäischen Bündnisfall“, der in Artikel 42, Absatz 7 des Vertrags von Lissabon festgeschrieben ist. Dieser Artikel ist wohl das unerprobteste Instrument im ganzen Vertrag, niemand weiß wie damit umzugehen ist. Und Frankreich reagierte mit einem Vergeltungsschlag auf die inoffizielle Hauptstadt des IS der Stadt Rakka, damit beweist Hollande vielleicht Entschlossenheit aber der IS ist damit in keiner Weise geschwächt. Jetzt ist der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für Experimente und Aktionismus. Beides zeigt nur, dass wir von einer geeigneten Strategie dem IS Einhalt zu gebieten, weit entfernt sind. Wir brauchen endlich eine internationale Verständigung und einen strategischen Plan zur Befriedung Syriens und zur Bekämpfung des IS. Wir müssen dem IS den ideologischen und geographischen Boden entziehen. Die Notwendigkeit von militärischen Mitteln läßt sich dabei kaum leugnen, ohne noch mehr tägliche Terror-Opfer in Syrien, Irak und angrenzenden Regionen in Kauf zu nehmen – das allerdings wäre dann an Zynismus kaum zu übertreffen. Eine einseitige Konzentration auf außenpolitische Maßnahmen ist dabei allerdings wenig zielführend, denn so verhindern wir in keiner Weise die Ausbreitung der menschenverachtenden IS-Ideologie. Zu einer Strategie gegen den IS gehören deshalb auch dringend innenpolitische Anstrengungen, die dem IS den „europäischen Nachwuchs“ entziehen.

Europa leistet sich seit Jahren eine europaweite jugendliche Perspektivlosigkeit ohne dringend notwendige Antworten zu finden. 8,7 Millionen Jugendliche sind arbeitslos, 27 Millionen Jugendliche in Europa sind von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. Seit den Unruhen der „Frustrierten in den Vorstädten“ in Frankreich im Jahr 2005 (!) hat sich sowohl in Frankreich als auch in vielen anderen Mitgliedsstaaten nicht Essentielles getan, um der zunehmenden Perspektivlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Dabei fordert die EU-Kommission die Mitgliedstaaten seit langem dazu auf, jugendpolitische Strategien und v.a. auch De-Radikalisierungsprogramme aufzulegen. Denn es ist doch kein Geheimnis: Jugendliche ohne Perspektive lassen sich leichter radikalisieren. Wir müssen endlich in Form von spezieller und intensiver Förderung den europäischen Jugendlichen in den Vorstädten und „Problemvierteln“ sagen: ihr seid unsere Jugend, wir wollen eine gute Zukunft für euch, ihr seid uns nicht egal. Ihr werdet nicht weiterhin die Diskriminierung erfahren, die eure Eltern oft erfahren mussten. Wir müssen verstärkt auf Antidiskriminierung setzen! Anstatt von europäischen Muslimen Distanzierung vom Terror zu erwarten, müssten wir in Solidarität zu ihnen aufstehen. Wir (also bio-national irgendwas) müssten aufstehen und deutlich machen: wir wollen mit euch leben, wir misstrauen euch nicht, wir wissen dieser Terror hat nichts mit eurem Glauben zu tun!

Und ja wir brauchen mehr innere Sicherheit. Die europaweite Vernetzung der Terroristen zeigt, wir brauchen eine deutliche Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden. Klar muss dabei aber sein, Geheimdienste bleiben „Fremdkörper in Demokratien“. Eine Überbetonung der geheimdienstlichen Zusammenarbeit und ein unhinterfragter Glaube an sog. Hinweise, die nicht überprüfbar sind, dürfen nicht zur europäischen Normalität werden. Schließlich brauchen wir um dem Terror nicht zum Opfer zu fallen, um demokratische Errungenschaften wie Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, viele kühle Köpfe, die sich nicht von Emotionen steuern und sich nicht einschüchtern lassen – denn dann hätten sie doch gewonnen, die Terroristen unserer Generation.

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Frieden/Internationales