Die Meinung am Freitag, 22.3.2013, von Horst Frehe

Ich meine, dass man in diesen Tagen den Eindruck gewinnen konnte, dass 40 Jahre Behindertenpolitik an Teilen der Bevölkerung komplett vorbeigegangen sind. Ein Satz, den ich immer wieder und in aller Deutlichkeit wiederholen würde, hat für eine Empörung gesorgt, die ich nicht mehr für möglich gehalten hätte:

22.03.13 –

Ich meine, dass man in diesen Tagen den Eindruck gewinnen konnte, dass 40 Jahre Behindertenpolitik an Teilen der Bevölkerung komplett vorbeigegangen sind. Ein Satz, den ich immer wieder und in aller Deutlichkeit wiederholen würde, hat für eine Empörung gesorgt, die ich nicht mehr für möglich gehalten hätte: „Alle behinderten Menschen sollen das Recht haben, ihr Leben, soweit sie es eben können, zu gestalten. Wenn sie aufgrund der Schwere ihrer Beeinträchtigung nicht alle Entscheidungen selber treffen können, brauchen sie Unterstützung. Dafür haben wir das Institut der rechtlichen Betreuung eingeführt.“

Für mich ist das ein Dogma, ein unverrückbares Menschenrecht. Menschen sollen das Recht haben, ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechend zu leben, soweit es die Umstände eben zulassen. Und es ist nicht einzusehen, dass das für Menschen mit Beeinträchtigungen weniger gelten soll. Ihr könnt euch vorstellen, wie oft ich in meinem Leben dafür gestritten habe – politisch, vor Gericht, in der Selbsthilfe. Dahinter steht ein Menschenbild, das von unveräußerlichen Rechten eines jeden ausgeht, die nicht eingeschränkt werden dürfen, nur weil jemand in bestimmten Lebenssituationen auf Unterstützung angewiesen ist. Es geht um das Recht auf Selbstbestimmung, das für jeden Menschen gelten soll, ganz gleich, ob er beeinträchtigt ist oder nicht.

Die Gegenposition, die jetzt immer wieder aufflammt, ist ein behütender Ansatz, ein bewahrender: Menschen, die den Auftrag haben, Behinderte zu fördern, fühlen sich berufen zu entscheiden, was für diese wohl das Beste sein könnte. Im besten Falle ist das lieb gemeint, aber letztlich führt es in die Entmündigung. Auch beeinträchtigte Menschen müssen gestärkt werden, ihren Willen zu bekunden und ihr Leben den eigenen Wünschen gemäß zu gestalten. Seit über 40 Jahren vertrete ich diesen Standpunkt, der damals ein Paradigmenwechsel war, und der es offenbar bis heute ist; ein Standpunkt, der nur deswegen „radikal“ erscheint, weil Menschen mit Beeinträchtigungen weniger zugetraut wird als sie eigentlich können. 

Das Seniorenmodul für ältere behinderte Menschen, das die Träger von Tagesförderstätten jetzt kritisieren, ist zu einem klar umrissenen Zweck eingerichtet worden: Für schwer beeinträchtigte behinderte Menschen soll es die Teilhabe an der Gesellschaft sicherstellen, wenn sie die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht haben. Bis dahin war ihnen die Unterstützung zur Eingliederung in das Erwerbsleben finanziert worden; aber das kann mit 65 nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Vielmehr muss es darum gehen, dass auch schwerstmehrfachbehinderte Menschen sich das Leben im Rentenalltag neu erschließen – in freier Selbstbestimmung, natürlich im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten und selbstverständlich mit Unterstützung. Das ist eine echte Herausforderung für alle, die mit diesen Menschen arbeiten. Aber konsequent genutzt ist das Instrument des Seniorenmoduls ein Stück Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. 80 Senioren nutzen es übrigens, und es gibt nur eine Handvoll Streitfälle. 

Die Einführung des Seniorenmoduls habe ich in den Jahren 2006 und 2007 als Abgeordneter sehr kritisch begleitet, und ich habe dafür gesorgt, dass die Ergebnisse evaluiert und in der Deputation erörtert werden, damit man das Instrument verbessern kann, wenn sich das als notwendig erweist. Leider hat es bislang nur einen einzigen Bericht gegeben, und da war das Instrument noch ziemlich neu. Ich halte es für erforderlich, dass wir noch einmal genau hinsehen: Wer nutzt das Seniorenmodul? Wem nützt es? Wird es von der Verwaltung im Sinne der Anspruchsberechtigten umgesetzt? Was muss verbessert werden? Wir werden das im Sommer diskutieren. Und wir werden uns auf einem Fachtag darüber verständigen, wie unser Umgang mit schwer beeinträchtigten Menschen im Rentenalter aussehen soll.

Liebe Freundinnen und Freunde: Und lasst euch bitte nicht weismachen, das Seniorenmodul sei auf 400 Euro pro Person beschränkt. Ich hatte seinerzeit – gemeinsam mit Karin Garling von der SPD – hineinverhandelt, dass auch höhere Beträge gezahlt werden, wenn der Unterstützungsbedarf im Einzelfall das erfordert.  So steht es auch in der einschlägigen Verordnung.

Auch die Behauptung, Senioren müssten die Tagesförderstätte verlassen, sobald sie 65 Jahre alt sind, ist durch die Tatsachen nicht gedeckt. Natürlich kann das Seniorenmodul auch in einer Tagesförderstätte in Anspruch genommen werden. Was aber in erster Linie beabsichtigt ist – und was auch die Tagesförderstätten letztlich zu einem Umdenken bewegen wird: Behinderte sollen das Geld im Sinne eines persönlichen Budgets nach den eigenen Bedürfnissen und Wünschen ausgeben dürfen. Und sie sollen gefördert werden bei der aktiven Suche nach Angeboten, für die sie ihr Geld ausgeben wollen. Sie sollen die Möglichkeit haben, sich in möglichst vielfältigen sozialen Milieus zu bewegen, das heißt, es soll eine möglichst weitgehende soziale Teilhabe ermöglicht werden. Das ist ein deutliches Kontrastprogramm zur Realität heute, wo sich das Leben der Betroffenen viel mehr als nötig zwischen Wohnheim und Tagesstätte abspielt. Das Ziel ist, dass ein nachfragegesteuertes Angebot entsteht.

Gestattet mir abschließend ein paar Gedanken zur Altersgrenze von 65 Jahren in Werkstätten und in Tagesförderstätten: Werkstätten für behinderte Menschen sind ein Angebot der beruflichen Teilhabe für Menschen, die nicht oder noch nicht in der Lage sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden. In der Werkstatt Bremen werden hierzu teilweise hochmoderne Arbeitsplätze vorgehalten, die auch wirtschaftlich gute Erträge bieten (zum Beispiel bei der Arbeit für Mercedes-Benz), die zwar zu sehr niedrigen Werkstattlöhnen führen, die dennoch im Bundesvergleich am oberen Rand liegen. Diese Erwerbstätigkeit endet mit dem Abschluss des 65. Lebensjahres. Im Anschluss bietet die Werkstatt Bremen zum Beispiel Seniorentreffs für ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,  um den kommunikativen Aspekt der weggefallenen Arbeit zu ersetzen. Auch der Martinsclub hält ein umfangreiches Angebot an kommunikativen Angeboten vor, zu deren Teilnahme das Seniorenmodul finanziell beiträgt, indem es bis zu 400 Euro im Monat bereitstellt, im Einzelfall auch mehr.

Anders als Werkstätten sollen Tagesförderstätten schwerer beeinträchtigten behinderten Menschen, die nicht oder noch nicht ein „Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen, so fördern, dass sie den Übergang zur Werkstätten für behinderte Menschen schaffen oder auch sonst eine Tagesstruktur bereitstellen. Mit dem Abschluss des 65. Lebensjahres entfällt aber der arbeitsplatzbezogene Förderanspruch.

Was bleibt, ist die Notwendigkeit eines tagesstrukturierenden Angebotes. Dafür haben die Tagesförderstätten bisher kein spezifisches Angebot entwickelt. Ich möchte, dass wir sie in diesem Sinne weiterentwickeln und sie unterstützen, auf der Grundlage des Seniorenmoduls für diese Altersgruppe ein nachfrageorientiertes Angebot aufzubauen.

Horst Frehe ist Staatsrat bei der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen.


Die Meinung als pdf könnt Ihr hier lesen und herunterladen.

Kategorie

Sozialpolitik