Die Meinung am Freitag, 23.02.2018, von Heidi Tilliger

Videoüberwachung: wieso ich sie ablehne und warum ich mir mehr Digitalkompetenz statt Bauchgefühl wünsche.

22.02.18 –

Videoüberwachung: wieso ich sie ablehne und warum ich mir mehr Digitalkompetenz statt Bauchgefühl wünsche.

Was ist so schlecht an Videoüberwachung?

1.) Die Polizeiarbeit leidet darunter
Die Videoüberwachung bindet zusätzliche Kräfte, die zu sehr großem Anteil in die Beobachtung von Tausenden von Unschuldigen fließen. Dies gilt auch, wenn man Computern die Auswertung überließe. Wie schon Björn Fecker im Positionspapier geschrieben hat: man findet die Nadeln im Heuhaufen nicht besser, wenn man mehr Heu dazu gibt. Dank Edward Snowdon wissen wir, dass sich Analysten der NSA und GCHQ beschwert hatten, dass sie in dem gigantischen Grundrauschen an unnützen Daten keine Chance haben, Straftäter bzw. Gefährder zu ermitteln.

Thomas de Maiziere meldet von seinem Test mit automatisierter Gesichtserkennung am Bahnhof Südkreuz, die sogenannten "False Positives" lägen bei 0,3%. "False Positive" sind zu Unrecht gemeldete Treffer. Laut Wikipedia wird der Bremer Hauptbahnhof am Tag von 120.000 Reisenden frequentiert. Das hieße, dass der Polizei jeden Tag durch die Software 360 unschuldige Bürger als Tatverdächtige bzw. Gefährder gemeldet würden. Und das alleine am Bahnhof. 

Wozu das führen kann, wenn man glaubt, man müsse nur wahllos beliebig viele Daten in beliebig schlechter Qualität sammeln, konnte man an dem Entzug der Akkreditierung der Journalisten am G20 Gipfel sehen. (Nein, das hat nichts mit Videoüberwachung zu tun, nur mit Datensammelstümperei). http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-08/datenschutz-datenspeicherung-bka-heiko-maas-rechtswidrig-aufklaerung

2.) Ich habe einiges zu verbergen
und ich hoffe Ihr auch. Weil uns das zu Menschen macht. Viele die sagen, sie hätten nichts zu verbergen, meinen damit, sie seien keine schweren Straftäter, keine Terroristen. Technologie unterscheidet das aber nicht, sie legt im Zweifel alle Geheimnisse von jedem offen. Schonmal bei der Steuererklärung ein bisschen übertrieben? Bei rot über die Ampel gefahren? In der Öffentlichkeit gepopelt? Wild gepinkelt? Heimlich geraucht? Einen echt peinlichen Anfängerfehler gemacht? Oft ist das, was man verbergen möchte, auch nur temporärer Natur und gar nicht negativ: das Geburtstagsgeschenk für den Partner, der geplante Heiratsantrag, die Schwangerschaft, das Bewerbungsgespräch, die Führerscheinprüfung.

Und gerade in politischer Sicht, sollte jeder selbst entscheiden dürfen, ob er Informationen wie diese öffentlich teilen möchte: welche Partei ich wähle, zu welcher Demonstration ich gehe, welche Bücher ich lese, mit welchen Personen ich Kontakt habe.

"Wendet sich nur gegen Kriminelle" - das ist eine Ideologie, die Diktatoren lieben und sachlich falsch. Überwacht wird erst einmal jeder und ob „Kriminell“ entscheidet sich im Gerichtsurteil. Jedes staatliche Instrument muss daher nicht nur vor Straftätern, sondern auch vor Unschuldigen funktionieren. Die Technologie unterscheidet nicht, kann jeden treffen und ist nicht vor Fehlern und Missbrauch gefeit. Natürlich gab es NSA Mitarbeiter, die mit staatlichen Instrumenten ihre Geliebte oder Ehepartnerin ausspioniert haben.
https://www.reuters.com/article/us-usa-surveillance-watchdog/nsa-staff-used-spy-tools-on-spouses-ex-lovers-watchdog-idUSBRE98Q14G20130927

Überwachung führt dazu, dass wir uns nicht mehr so frei verhalten, wie wir es ohne Überwachung tun würden. Chinas Regierung arbeitet intensiv daran, den perfekten Untertanen zu formen: http://www.sueddeutsche.de/politik/neuer-ueberwachungsstaat-chinas-digitaler-plan-fuer-den-besseren-menschen-1.3517017
Das deutsche Verfassungsgericht hat da erfreulicherweise eine gegenteilige Auffassung.

3) Wehret den Anfängen
Videobeobachtung ist nur der erste Schritt und Türöffner für noch viel gruseligere Entwicklungen.  Es gibt heute bereits "künstliche Intelligenz", die homosexuelle Menschen mit mittelmäßiger Wahrscheinlichkeit erkennt, andere KI, die Gefühle eines Menschen sehr gut erkennt, wieder andere, die Lügen sehr gut erkennt. Stellt Euch bitte einen Augenblick lang vor, was Diktatoren, ob faschistische oder nicht, damit anstellen werden. Und habt Ihr wirklich Vertrauen darin, dass alle heutigen Videoaufnahmen tatsächlich verlässlich gelöscht werden? Ich nicht.

Und was ist mit dem Nutzen der Videoüberwachung?
Das ist Stand heute meines Wissens nicht erforscht. Es ist nicht anzunehmen, dass eine Videoüberwachung einen Selbstmordattentäter von seiner Tat abbringt. Der deutsche Richterbund hat bereits davor gewarnt, dass das solchen Tätern eher einen Anreiz bieten könnte. Auch bei Handlungen im Affekt oder unter Alkoholeinfluss hat Videoüberwachung keine abschreckende Wirkung. Bei anderen Straftaten besteht der Verdacht, dass diese durch die Videoüberwachung nur in andere Gegenden verdrängt werden.

In der Identifizierung des Täters hilft die Videoüberwachung in einer sehr kleinen Anzahl von Fällen. Zudem hilft Videoüberwachung Stand heute in der Verurteilung von Tätern bei Delikten, bei denen ansonsten Wort gegen Wort stände. Ich weiß nicht, auf wie viele der gut 6 Millionen Ermittlungsfälle im Jahr das zutrifft. Allerdings bewertet das Verfassungsgericht den Grundrechtseingriff der Videoüberwachung als so gravierend, dass diese nur zur Abwehr von entsprechend schweren Taten angemessen sein kann.

Was würde wirklich gegen Terrorismus nutzen?
Mein Kerngebiet ist die IT und nicht Polizeiarbeit oder Justiz, deswegen hier nur ganz kurz, was allgemeiner Konsens zu sein scheint: mehr Prävention, mehr Polizei, bessere übergreifende Zusammenarbeit, schnellere Justiz. Für alle islamistisch motivierten Anschläge der letzten Jahre galt: mindestens einer der Täter war der Polizei bereits als auffällig bekannt, war mit anderen Gefährdern vernetzt, hatte sich in sozialen Medien als IS-Fan gezeigt... Es fehlte nicht an Informationen, es fehlte an kluger Bewertung und Weiterverarbeitung der vorhandenen Informationen.

Wird künstliche Intelligenz uns alle retten?
Künstliche Intelligenz und Massendatensammlungen gebahren sich als neue Religion. Wo große Unwissenheit herrscht, haben es falsche Propheten mit Heilsversprechen leicht. Glaubt man denjenigen, die als Datenkraken Geld verdienen, ist Krebs schon nahezu geheilt, gibt es nie wieder Krankheiten, Autounfälle, Verbrechen, Einsamkeit... You name it, they sell it.

Videoüberwachung wird nicht zur Bekämpfung von Terrorismus eingesetzt, sondern "um das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger zu stärken", also als Placebo wegen Unwissenheit der Bürger. Die Digitalisierung hat Potential für Gutes und für Schlechtes und vielleicht wird man mit ihrer Hilfe tatsächlich Krebs heilen können. Die Digitalisierung wirkt in jeden einzelnen Lebensbereich hinein. Wenn wir Gegenwart und Zukunft weiterhin klug gestalten wollen, dann ist

Meine Meinung am Freitag: Digitalkompetenz ist nicht nur ein Thema für die Schulbildung der Kinder. Jeder, der Politik gestalten möchte, sollte sich soviel Grundwissen aneignen, dass er PR und Marketing gegenüber nicht gutgläubig ausgeliefert ist. Damit wir auf Basis von Wissen und nicht von Bauchgefühl miteinander streiten und kämpfen können.

Bis dahin hilft es im Fall der Videoüberwachung vielleicht, sich daran zu orientieren, wer das Thema ausbauen möchte (Chinesische Diktatoren, AfD) und wer es kleinhalten möchte (Datenschutz-Experten, wir Grüne).