Die Meinung am Freitag, 23.09.2016, von Marieluise Beck

Ich meine oder besser: ich habe den großen Wunsch, dass wir in der kommenden Woche unsere Augen wieder Richtung Kiew richten. Anlass ist eine grauenvolle Erinnerung, die größte Massenerschießung der NS-Zeit, die uns in Deutschland kaum bekannt ist: Die Ermordung von 33.761 Juden innerhalb von nur 36 Stunden am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar, einer Schlucht vor den Toren der Stadt Kiew. Auch hunderte Polizisten des Bremer Polizei-Bataillons 303 waren daran beteiligt.

22.09.16 –

Ich meine oder besser: ich habe den großen Wunsch, dass wir in der kommenden Woche unsere Augen wieder Richtung Kiew richten. Anlass ist eine grauenvolle Erinnerung, die größte Massenerschießung der NS-Zeit, die uns in Deutschland kaum bekannt ist: Die Ermordung von 33.761 Juden innerhalb von nur 36 Stunden am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar, einer Schlucht vor den Toren der Stadt Kiew. Auch hunderte Polizisten des Bremer Polizei-Bataillons 303 waren daran beteiligt.

Kinder wurden auf die Leichenberge geworfen und lebendig begraben, um Munition zu sparen. Insgesamt wurden in Babyn Jar mehr als 100.000 Menschen erschossen. Neben 50.000 Juden waren auch sowjetische Kriegsgefangene, Kommunisten und Verfechter der ukrainischen Unabhängigkeit unter den Opfern.

In diesem Jahr wird erstmalig ein Bundespräsident am Jahrestag, es ist der 75., des Massakers von Babyn Jar teilnehmen. Auf Einladung des Bundespräsidenten und des Ukrainian Jewish Encounters – die ich als große Ehre empfinde - werde ich Joachim Gauck nach Kiew begleiten, als Zeichen deutsch-ukrainisch-jüdischer Versöhnung.

Bundespräsident Gauck betont mit seiner Teilnahme das Bekenntnis Deutschlands zu seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine. Dazu gehört die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen in der Ukraine und an den Menschen dort. Unsere Verantwortung gilt auch der Unterstützung der heutigen unabhängigen Ukraine und ihrer Gesellschaft bei ihren Bemühungen um Demokratie, Rechtsstaat und wirtschaftliche Entwicklung. Die positiven Zeichen in der politischen Entwicklung in der Ukraine werden getragen von einer erstarkenden und vielfältigen Zivilgesellschaft, deren Mut und Engagement Vorbild für ganz Europa sein können. Der ökonomischen, politischen und militärischen Destabilisierung der Ukraine mit dem Ziel, diesen Prozess zu bremsen oder gar zu verhindern, muss deshalb entschieden entgegengetreten werden.

Damit stellen wir uns an die Seite derer, die für Demokratie und Freiheit kämpfen. So wie wir heute eine Verantwortung gegenüber Russland tragen, gilt unsere Verantwortung auch gegenüber der Ukraine und Belarus, auf deren Territorium unendlich viel Blut vergossen wurde. Deutschland kommt in der Unterstützung der jungen ukrainischen Demokratiebewegung nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Verantwortung eine Schlüsselrolle zu. Daher ist es wichtig, die komplexe Geschichte des Landes, das über weite Strecken des letzten Jahrhunderts Spielball zweier totalitärer Systeme war, zu kennen.

Der verbrecherische Krieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Sowjetunion unterschied sich vom Krieg gegen die westeuropäischen Länder und die westlichen Alliierten in seinen Zielen und seiner äußersten Brutalität. Er wurde nicht nur gegen die Soldaten der Roten Armee, sondern auch explizit gegen die Bevölkerung der besetzten Gebiete geführt. Polen, die Sowjetunion und mit ihr die Ukraine sollten als Staaten vernichtet, ihre Gesellschaften ausgelöscht, ihre Bevölkerungen - „slawische Untermenschen“ - versklavt oder ermordet werden. Dazu gehörte auch die systematische Vernichtung des Judentums als fester Bestandteil der Kriegsplanungen. Mit mehr als 4 Millionen stammte der größte Teil der bis Kriegsende ermordeten Juden aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion und Polens, darunter mehr als eine Million aus der Ukraine.

Die Ukraine spielte als „Kornkammer“ eine zentrale Rolle in den Expansionsplänen der Nationalsozialisten und war daher besonders von rücksichtsloser Ausplünderung und Ausbeutung betroffen. Die ukrainische Bevölkerung wurde gezielt ausgehungert, vertrieben und ermordet. Das erklärt, weshalb unter den 6,8 Millionen ukrainischen Kriegsopfern der Anteil der zivilen Bevölkerung mit 5,2 Millionen besonders hoch war.

Im Gegensatz zu den westlichen Zwangsarbeitern, die unter Justizaufsicht standen, waren die sog. „Ostarbeiter“ dem wesentlich härteren Straf- und Terrorsystem der Gestapo ausgeliefert. Tod und Vernichtung in den Lagern, die durchaus mit Konzentrationslagern vergleichbar waren, wurden vom NS-Regime billigend in Kauf genommen. Von den mehr als 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen – der Anteil der Ukrainer kann nicht beziffert werden – kamen etwa 3,3 Millionen während ihrer Gefangenschaft um. Manche von ihnen beim Bau des Bunker Valentin in Bremen-Nord.

„Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin - bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und aber tausend Begrabene hin." Jewgenij Jewtuschenko, übersetzt von Paul Celan.

 

Kategorie

Frieden/Internationales | Rechtsextremismus